Innenstädte neu denken: Innovative Lösungen für Leerstand und Attraktivität
Ein Interview mit Stefan Müller-Schleipen von Die Stadtretter GmbH
Der Leerstand frisst sich durch Deutschlands Innenstädte und stellt Kommunen vor eine der größten Herausforderungen der modernen Stadtentwicklung. Die Frage ist nicht mehr, ob gehandelt werden muss, sondern wie schnell und mit welchen innovativen Werkzeugen.
Hier finden Sie die zentralen Erkenntnisse aus unserem Interview, das im Rahmen unserer Veranstaltung "Innenstädte neu denken" geführt wurde. Projektleiterin Claudia Kupsch (GFKD AG) sprach mit dem ausgewiesenen Experten Stefan Müller-Schleipen, Geschäftsführer der Immobilativ GmbH und Kopf der digitalen Vernetzungsplattform Die Stadtretter GmbH. Er liefert nicht nur erschreckende Zahlen zum Status quo, sondern auch konkrete digitale und mutige Lösungen, um unsere Innenstädte zukunftssicher zu machen.
Die dramatische Realität: Warum unsere Innenstädte leiden
Der Leerstand ist kein drohendes Szenario mehr, sondern eine sichtbare und schmerzhafte Realität. Stefan Müller-Schleipen bestätigt, dass die Kommunen das Thema bereits 2020 als das „kommende Problem“ identifizierten, doch die Entwicklungen haben sich seitdem massiv beschleunigt.
Der heimliche Zerstörer: Die Digitalisierung
Oft wird der Onlinehandel als alleiniger Schuldiger genannt. Doch der wahre Treiber ist unsere allumfassende Digitalisierung.
„Wir müssen uns eigentlich die Frage stellen, welche Funktionalitäten braucht eine Innenstadt im Jahr 2030, um vor allen Dingen die nachfolgende Generation, die jungen Leute, die sozusagen mit dem Handy auf die Welt gekommen sind, noch für einen Besuch in der Innenstadt zu motivieren.“ – Stefan Müller-Schleipen
Ob Musik-Streaming, Online-Banking oder der Kauf von Lebensmitteln – fast alle Erledigungen, die uns früher in die Stadt lockten, können wir heute bequem vom Sofa aus per App erledigen. Dieser Verlust an notwendigen Anlässen bedeutet: Niemand muss mehr in die Innenstadt, man kann nur noch.
Die Kosten des Nichtstuns: Leerstand ist teuer
Nichts zu tun, ist finanziell die teuerste Option. Die Zahlen sind alarmierend:
- Steuerausfälle: Ein leer stehendes Einzelhandelsgeschäft (100 m²) kostet die Kommunalkassen jährlich rund 12.500 Euro an Steuerausfällen (IFH Köln).
- Frequenzverlust: Bei 10 bis 15 % Leerstand droht ein Frequenzrückgang von bis zu 30 % (Die Stadtretter). Leerstand führt zu weiterem Leerstand.
- Wirtschaftlicher Schaden: Der HDE schätzt den gesamt-wirtschaftlichen Schaden durch wegfallende Geschäfte seit Beginn der Corona-Krise auf 9 bis 12 Milliarden Euro.
Die Umfrage "Vitale Innenstädte" bestätigt, dass auch Bürger Maßnahmen gegen leer stehende Geschäfte als dringendste Aufwertung ihrer Innenstädte sehen.
Lösungen und Best Practices: Die Kommune als Akteur
Der Schlüssel zur Trendwende liegt in der Geschwindigkeit, der Steuerung und dem Mut der Kommunen.
1. Beschleunigte Immobilienentwicklung
Die Zeiten, in denen eine Kaufhausimmobilie nach Schließung (wie in Oldenburg oder Herne) zwölf Jahre bis zur Wiedereröffnung benötigte, sind vorbei. Hanau macht es vor: Der ehemalige Kaufhof wurde bereits nach einem Jahr mit einer iterativen Projektentwicklung wiederbelebt, statt jahrelang den "perfekten" Mixed-Use-Ansatz zu suchen. Man muss den Mut haben, ins Tun zu kommen und die Prozesse zu beschleunigen.
2. Digitales Leerstands- und Ansiedlungsmanagement (Lean)
Kommunen müssen vom statischen Leerstandskataster (oft Excel-Listen) zu einem aktiven Steuerungsinstrument übergehen. Das Tool Lean (Initiiert mit Unterstützung des BMWi) liefert dafür die Grundlage.
Was kann Lean?
- Digitales Abbild: Es vereint alle relevanten Daten (Leerstände, Passantenfrequenzen, ÖPNV-Haltestellen).
- Aktives Matching: Über einen Online-Gesuchsmelder und einen Algorithmus werden leer stehende Immobilien mit passenden Nachnutzern gematcht.
- Proaktive Steuerung: Das Innenstadtmanagement wählt aus den passenden Nachnutzern (z. B. Sanitätshaus, Spielwarengeschäft, Unverpacktladen) jene aus, die am besten zum gewünschten Nutzungsmix passen, und schaltet sie dann für den Eigentümer frei.
Ein Rechenbeispiel aus Hanau zeigt den Erfolg: Jeder Euro, der in ein aktives Ansiedlungsmanagement investiert wurde, führte zu 34,00 Euro mehr Einnahmen in der kommunalen Kasse.
3. Gestaltungssatzung und Anmutung
Eine attraktive Innenstadt braucht eine einheitliche Formsprache und Ästhetik. Ein Wildwuchs aus unterschiedlichen Werbematerialien und Möbeln wirkt abstoßend. Die Kommune sollte eine Gestaltungssatzung nutzen, um ein stimmiges Gesamtbild zu schaffen – etwa durch eine einheitliche Bestuhlung der Außengastronomie.
4. Das Problem der Unternehmensnachfolge lösen
Ein massiver Generationswechsel steht bevor: Das Durchschnittsalter der Inhaber im Mittelstand liegt bei über 54 Jahren. Viele inhabergeführte Läden werden in Rente gehen. Hier müssen Kommunen aktiv werden.
Die Initiative "Die freundliche Übernahme" (Großenhain) zeigt, wie es geht: Ein Wettbewerb für neue Nutzungsideen, der nicht auf Mietminderung, sondern auf Zuschüsse zur Geschäftsgründung setzt, um kreative Nachfolger zu finden.
Der wichtigste Appell: Mut und die Rolle des Innenstadtkümmerers
Um diese Wende zu schaffen, braucht es vor allem Motivation ins Tun zu kommen und Mut zum Aushalten von Gegenwind.
„Zeigen Sie den Mut und die Motivation, daranzugehen, auch mal Gegenwind auszuhalten, weil nur die Mutigen werden belohnt.“ – Stefan Müller-Schleipen
Die Rolle des Innenstadtkümmerers
Der entscheidende Schlüssel in der Verwaltung ist der hauptamtliche Innenstadtkümmerer. Das Innenstadtmanagement darf keine 5%-Aufgabe einer bereits überlasteten Kollegin sein. Es ist eine Notwendigkeit und eine Vollzeitstelle, die sich um Eigentümer, junge Nachnutzer, Marketing und Frequenz kümmert. Die Investition amortisiert sich schnell.
Digital Natives erreichen
Wir müssen die Innenstadt "Instagrammable" machen und gute Gründe für einen Besuch schaffen. Dazu gehört, digitale Lösungen und Tools zu nutzen, aber auch mutige Entscheidungen im Stadtraum zu treffen – wie die Umwandlung eines hässlichen Parkplatzes in einen lebendigen Platz mit Gastronomie und Kultur. Auch die Regulierung muss hinterfragt werden: Abschreckende Schilder oder komplizierte Parkregelungen, die die Bequemlichkeit des Internets nicht schlagen können, müssen weg.
Stefan Müller-Schleipens Schlusswort an alle Kommunen: Es gibt für fast jedes Problem bereits eine Lösung. Sparen Sie sich die manuelle Suche und die händische Arbeit. Nutzen Sie die digitalen Instrumente, teilen Sie Wissen und befähigen Sie Ihre Mitarbeiter, das Heft des Handelns wieder in die Hand zu nehmen. Zusammen schaffen wir, was alleine unmöglich scheint!
Haben Sie Erfahrungen mit innovativem Leerstandsmanagement oder der Besetzung eines Innenstadtkümmerers in Ihrer Kommune gemacht? Teilen Sie Ihre Erkenntnisse in den Kommentaren des Videos!
Interview
Innenstädte neu denken: Innovative Lösungen für die Stadtentwicklung
Stefan Müller-Schleipen, Die Stadtretter GmbH & Claudia Kubsch, GFKD AG